Predigt zum Israelsonntag 10. Sonntag nach Trinitatis

Predigt Römer 11, 25-32: Gnade sei mit Euch von Gott, unserem Vater und unserem Herrn und Bruder Jesus Christus!

Liebe Gemeinde!

Heute begehen wir den sogenannten Israelsonntag. Und ehrlich gesagt, ich mag diesen Gedenktag gar nicht. Zu dünn ist das Eis, auf das ich mich mit einer Predigt an diesem Tag begebe, weil ich Deutsche bin und alles, was ich zum Volk Israel sage, sich daran messen lassen muss, dass in diesem meinem Land fünf bis sechs Millionen Juden umgebracht wurden. Zu dünn ist das Eis, weil die Lage im Nahen Osten so schlimm ist, wie seit Jahren nicht mehr. Es herrscht Krieg zwischen Israel und Palästina und es fällt schwer, eine Position zu beziehen.


Als junge Theologiestudentin war ich drei Wochen in Israel und habe sowohl in jüdischen als auch in palästinensischen Familien gewohnt. Und obwohl die Lage damals sehr viel ruhiger war als heute, habe ich die ständige Angst vor Anschlägen auf israelischer Seite gespürt und miterlebt. Ich habe gemerkt, wie wenig selbstverständlich für die meisten die Existenz des Staates Israels ist und dabei doch die einzige Möglichkeit ohne Angst leben zu können.


Ich habe den Zorn junger Palästinenser gesehen, die sich nicht frei bewegen, die keine Universität in Israel besuchen dürfen, obwohl sie dort leben, weil nur zur Uni darf, wer Wehrdienst ableistet. Ich habe auch gehört, dass viele junge Leute auf beiden Seiten sich nichts sehnlicher wünschen als dauerhaften Frieden, damit sie tanzen, feiern, lieben können wie andere junge Menschen auf der ganzen Welt.


Zu dünn ist das Eis als Theologin zum Israelsonntag predigen zu müssen, denn auch da gibt es zu viel Unheilvolles was gepredigt wurde und entweder Vorurteile verfestigt oder Unterschiede zwischen Juden und Christen allzu schnell glattgebügelt hat. Und der Predigttext für den heutigen Sonntag macht es mir auch nicht gerade leicht.


Aber was ist denn eigentlich der Israelsonntag?


Er wird immer elf Wochen nach Pfingsten gefeiert. Das liegt daran, dass er ungefähr zeitgleich mit dem jüdischen 9 Aw fallen soll, an dem die Juden der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedenken. Deshalb hieß der Israelsonntag auch früher: Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Seit der Reform der Agende 1999 ist das Thema dieses Sonntages das Verhältnis der Christen zu den Juden. Und darum geht es auch dem Apostel Paulus im Römerbrief. Ganze drei Kapitel (9-11) widmet er diesem Thema. Und der Predigttext ist der vorletzte Abschnitt dieser langen Auseinandersetzung. Ich lese die Verse 25-32 aus dem Kapitel 11:


25 Ich möchte euch, liebe Geschwister, über das Geheimnis ´der Absichten Gottes mit Israel` nicht im Unklaren lassen, damit ihr nicht in vermeintlicher Klugheit aus der gegenwärtigen Verhärtung Israels falsche Schlüsse zieht. Es stimmt, dass ein Teil von Israel sich verhärtet hat, aber das wird nur so lange dauern, bis die volle Zahl von Menschen aus den anderen Völkern zum Glauben gekommen ist.


26 Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, wird ganz Israel gerettet werden. Es heißt ja in der Schrift: »Aus Zion wird der Retter kommen, der ´die Nachkommen` Jakobs von all ihrer Gottlosigkeit befreien wird.


27 Denn das ist der Bund, den ich mit ihnen schließen werde, ´sagt der Herr`: Ich werde ihnen ´die Last` ihrer Sünden abnehmen.«


28 Ihre Einstellung zum Evangelium macht sie zu Feinden Gottes, und das kommt euch zugute. Andererseits folgt aus der Wahl, die Gott getroffen hat, dass sie von ihm geliebt sind. Er hat ja ihre Stammväter erwählt,


29 und wenn Gott in seiner Gnade Gaben gibt oder jemand beruft, macht er das nicht rückgängig.


30 In der Vergangenheit wart ihr es, die Gott nicht gehorcht hatten, und durch den Ungehorsam Israels ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt sein Erbarmen erfahren habt.


31 Umgekehrt sind sie es, die gegenwärtig Gott ungehorsam sind, und dass ihr dadurch sein Erbarmen kennen gelernt habt, soll dazu führen, dass schließlich auch sie sein Erbarmen erfahren.


32 So hat Gott alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams werden lassen, weil er allen sein Erbarmen erweisen will.


Gleich im ersten Satz geht es los mit den Schwierigkeiten: Paulus spricht von einem Geheimnis, dass er erklären will; das Geheimnis von Gottes Plan mit Israel. Wenn es ein Geheimnis ist, wie kann Paulus es dann erklären? Und woher kennt Paulus Gottes Pläne? Paulus kennt Gottes Pläne nicht, und so kann er sie auch nicht erklären. Am Ende des 11.Kapitels erkennt er dies selber – leider gehören diese Verse nicht mehr zum Predigttext – und Paulus endet mit einem Lobpreis. Denn Gottes Wege kann man nicht erklären, man kann Gott ob seiner großen Überlegenheit nur anbeten. Und so endet Paulus:


33 Wie unerschöpflich ist Gottes Reichtum! Wie tief ist seine Weisheit, wie unermesslich sein Wissen! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!


34 Hat jemals ein ´Mensch` die Gedanken des Herrn ergründet? Ist je einer sein Berater gewesen?«


35 Wer hat Gott jemals etwas gegeben, sodass Gott es ihm zurückerstatten müsste?«


36 Gott ist es, von dem alles kommt, durch den alles besteht und in dem alles sein Ziel hat. Ihm gebührt die Ehre für immer und ewig. Amen.


Ach, hätte man es in den zweittausend Jahren Kirchen- und Predigtgeschichte doch bei diesem Lobpreis Gottes belassen, dann hätten die Christen wohl ein entspannteres Verhältnis zu ihrem großen Bruder, dem Judentum. Denn dann hätte man gemeinsam den einzigen Gott besingen, ihn loben und anbeten können, und hätte sich nicht um „der Wahrheit willen“ streiten und vernichten müssen.


Paulus ist da in seinen Ausführungen über die Juden sehr viel weiser, gemäßigter und umsichtiger. Aber leider auch sehr umständlich und schwer verständlich. Das liegt wohl daran, dass Paulus sich hier einer Technik bedient, die wir Theologen als Dialektik kennen. Dialektik bedeutet, dass man eine Sache denkt und gleichzeitig das Gegenteil dieser Sache immer gleich mitdenkt. Und zwar nicht als Gegensätze, sondern als zwei Dinge, die zusammengehören. Einerseits, sagt Paulus, sind ein Teil der Juden verhärtet und somit Feinde Gottes, weil sie Christus nicht als ihren Herrn annehmen. Andererseits sind die Juden, und zwar alle, von Gott erwählt als sein geliebtes Volk. Einerseits sind sie zwar jetzt ungehorsam gegen Gott, andererseits wird Gott sie Erbarmen erfahren lassen.


Um das verstehen zu können, muss man den Römerbrief als Ganzes verstehen. Der Römerbrief ist quasi das theologische Testament des Paulus. Hier legt er seinen Glauben da. Die Kapitel 1-8 handeln, so habe ich es vereinfacht mir fürs Examen gemerkt, davon, dass wir Menschen alle kleine Sünderlein sind, aber alle in den Himmel hineinkommen. Und zwar nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil Gott es so will. Er hat uns Menschen durch seinen Sohn Jesus Christus die Sünden genommen und uns so mit ihm versöhnt. Daraus folgt dann die dankbare Vergewisserung des Menschen durch Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen. In den Kapiteln 9-11 setzt sich Paulus dann mit der Sonderstellung des Volkes Israel auseinander. Als Jude, Pharisäer und ehemaliger Christenverfolger war für ihn wahrscheinlich die Frage zwingend, warum nicht alle Juden seinem Beispiel folgen.


Paulus findet seine Antwort in dem wunderbaren, aber oft für Menschen unverständlichen Heilshandeln Gottes. Es ist Gottes Plan, dass nicht sofort alle Juden zum Glauben kommen, sondern erst müssen alle Menschen aus den nicht-jüdischen Völkern sich zu Christus bekennen, dann werden dies auch die Juden tun; und zwar dann, wenn Gott es so entscheidet. Es ist also nicht die Entscheidung der Juden, sondern Gottes Entscheidung, sein Plan. Doch bis dahin ist und bleibt das auserwählte Volk auch weiterhin Gottes Volk, mit all seinen Verhärtungen und Unverständnis.


Natürlich könnte jetzt so mancher einwenden, dass dann Judenverfolgung, Shoa und vieles mehr in diesem Denken des Paulus, Gottes Plan mit seinem Volk gewesen, und somit kein Mensch daran schuld sei. Doch das hieße das Denken des Paulus ad absurdum zu führen. Das, was Menschen dem jüdischen Volk angetan haben und noch tun, hat nichts mit Gottes Plan zu tun. Paulus redet nicht von Bestrafung oder Sühne; er kommt nicht einmal auf die Idee, dass Menschen Gottes Plan des Heils für alle Welt in irgendeiner Weise umsetzen sollen. Das kann nur einer: Gott selbst.


Aber was bleibt dann für uns Christen heute? Ich finde genug Sätze im Predigttext, die mir ganz persönlich zu denken geben. Und zwar ohne dass ich mir über die Bekehrung Israels zu Christus den Kopf zerbrechen muss. Das kann ich gut Gott selber überlassen.

  • Gott hat alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams werden lassen, weil er allen sein Erbarmen erweisen will.

Wie gehorsam bin ich eigentlich Gott? Wann und wie bin ich gefangen in meiner Sünde gegen Gott? Ich verstehe als Sünde, wenn ich mich abwende von Gott; wenn ich Erfolge meinem Tun zu schreibe. Wenn ich Glück als selbstverständlich oder verdient hinnehme ohne Dankbarkeit gegenüber Gott. Und wo erfahre ich immer wieder sein Erbarmen?


Will und glaube ich, dass Gott wirklich allen sein Erbarmen erweist? Oder hätte ich gerne ein paar Ausnahmen oder nur Erbarmen für Menschen, die so glauben oder sind wie ich?

  • bis die volle Zahl von Menschen aus den anderen Völkern zum Glauben gekommen ist.

Gehöre ich dazu, zu den Menschen, die zum Glauben gekommen sind? Oder ist es mein Unglauben, der Gottes Heilsplan nicht zur Vollendung kommen lässt? Verhindere ich, dass Gott sein Erbarmen allen erweist, dadurch, dass ich meinen Glauben, mein Christentum allzu gern als meine Privatsache betrachte? Wie viel öffentliches Zeugnis muss ich für meinen Glauben ablegen?

  • wenn Gott in seiner Gnade Gaben gibt oder jemand beruft, macht er das nicht rückgängig.

Wie ernst ist es mir mit meinen Gaben, meiner Berufung durch Gott? Glaube ich, dass sie ein Geschenk Gottes sind oder bilde ich mir etwas darauf ein als sei es mein Verdienst? Wie gehe ich überhaupt damit um? Nutze ich sie im Sinne Jesu Christi, also zur Nächstenliebe, oder nur für mich selbst zum eigenen Vorteil?


Das sind nur ein paar Fragen, die sich mir stellen und die ich ihnen als Anregung mitgeben möchte, sich diesem vielschichtigen und schwer verständlichen Bibeltext vielleicht noch einmal in Ruhe zu Hause zu stellen. Vielleicht kommen ihnen andere Fragen oder Gedanken.


Und was bleibt nun noch für das Verhältnis von Christen und Juden, und ich möchte hinzufügen, auch zu den Muslimen?


Vielleicht nur das, was Paulus am Ende des 11. Kapitels tut: Gott loben und preisen in seiner unerforschlichen Weisheit und seiner unermesslichen Treue und Güte. Wenn den drei großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam das gemeinsam gelänge, dann wäre es sehr, sehr viel. Denn wer gemeinsam Gott lobt, kann sich nicht bekämpfen. Aber vielleicht wird Gott in seiner hohen Vernunft und in seinem großen Erbarmen auch eines Tages dafür sorgen, dass dies gelingt.


Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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