Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes ist mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde,
mögt ihr Gedichte? Ich schon! Sie beschreiben für mich das Leben in einer besonderen Weise. Neulich habe ich wieder eines gelesen. Es stammt von Goethe – wem auch sonst:
»Ich ging im Walde so für mich hin,/ nach nichts zu suchen,/
das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich / ein Blümlein stehen / wie Sterne leuchtend / wie Äuglein schön.«
Ich erinnere mich an so manchen Spaziergang am Sonntagnachmittag, an dem ich durch den Wald ging – allein oder zusammen mit anderen –. Den Blick mal auf den Weg gerichtet, mal auf die Bäume, mal auf die Blätter, wie sie im Wind raschelten, wie sie mit dem Sonnenlicht spielten, das zwischen ihnen hindurchfunkelte. – Ohne ein bestimmtes Ziel – einfach nur so. Ich erinnere mich, wie ich in Ruhe meinen Gedanken und Empfindungen nachhing. Meine Seele fühlte sich frei, hatte Raum zum Atmen, Platz zum Erzählen, zum Austausch mit anderen – wenn welche dabei waren.
In solchen Momenten komme ich wieder zu mir selbst. Was mich sonst auf Trab hält, fällt von mir ab. Ich sehe meine Umgebung ganz anders als im Alltag, genauer, intensiver. Alles geht langsamer.
II
Das alles ist mir eingefallen als ich den Predigttext für den heutigen Sonntag las. Es ist die Geschichte vom Abreißen der Ähren am Sabbat. Ich lese Euch die Version vor, die im Markusevangelium steht:
Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger begannen, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren:
wie er in das Haus Gottes ging zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und die Schaubrote aß, die niemand als die Priester essen darf, und sie auch denen gab, die bei ihm waren?
Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.
Die Jünger sind gläubige und kundige jüdische Menschen. Sie wissen um Gottes Gebot. Sie wissen, dass es am Sabbat nicht erlaubt ist, irgendeine Arbeit zu tun – auch nicht zu ernten ‑, Sie reißen die Ähren trotzdem ab, weil sie nun einmal Hunger haben. Und Jesus, der genauso um die Wichtigkeit und Geltung der göttlichen Gebote weiß, stellt sich auf ihre Seite: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
Mein Empfinden gibt Jesus sofort Recht. Es geht doch nicht um die peinliche Befolgung eines Gebotes, sondern um seinen Sinn: Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht umgekehrt. Es geht darum, was gut für den Menschen ist! Und in diesem Falle heißt das, den Hunger zu stillen.
III
Politische Fragen von heute drängen sich auf: Was sagen wir als Christen zu längeren Öffnungszeiten, was zu verkaufsoffenen Sonntagen? Hat nicht die Landesregierung Nordrheinwestfalens unlängst beschlossen, die vier Adventssonntage 2020 für verkaufsoffen zu erklären? Dies wurde paradoxerweise mit der wirtschaftlichen Situation begründet, die durch das Virus bedroht ist. Zusätzliche Verkaufszeiten an Sonntage stellen auch die Frage, wie wir uns zu den dadurch entstehenden Mehrbelastungen für die an diesen Sonntagen Arbeitenden stellen. Was ist gut für den Menschen?
Grundlegender als die politischen sind immer persönliche Fragen: Ich, in meiner persönlichen Situation, bin gefragt und muss abwägen, wie ich es halten will mit der Sonntagsruhe. Selbstverständlich empfinde ich es als bedeutend, dass die Menschen Arbeit haben – aber schließt denn das einen Ruhetag aus? Wie wichtig ist es mir, dass ein gemeinsamer Tag der Ruhe zur Verfügung steht, weil alle Menschen diese Ruhe brauchen?
Gehört es noch zu meinem Christsein, dass ich den Feiertag, den Sabbat heilige? Oder habe ich längst die Sonntagsruhe eingetauscht gegen ein Wellness-Wochenende im Vierteljahr? Weil das einfach eine neue Zeit ist, in der ich lebe, und in der man einfach das Gebot neu abwägen müssen, um es wertzuschätzen?
Was braucht der Mensch wirklich? Was brauche ich wirklich? Brauche ich unendliche Einkaufsmöglichkeiten? Brauche ich nicht auch gemeinsame Ruhephasen?
Kann es wirklich sein, dass das Bedürfnis nach Ruhe jede und jeder nur privat, mit sich selbst ausmachen muss?
Ich glaube das nicht. Wie schnell werden Menschen persönlich Opfer von gesellschaftlichen Zwängen und Tendenzen. Wie schwer fällt es mir, mich als einzelner gegen die mehr und mehr um sich greifende Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit zu wehren? Wo hat für mich die Forderung nach Flexibilität im Beruf eine Grenze – und wie soll ich diese dann vertreten, ohne meine Arbeitsstelle zu gefährden? Endlich: Wie kann ich verhindern, dass ich ausbrenne, leerlaufe, kaputtgehe?
Ich glaube deshalb, es ist gut, zusammen für einen gemeinsamen Ruhetag für alle zu streiten. Als ein Rahmen, in dem Menschen zu ihrer eigenen Ruhe finden können; in dem sie sich das nehmen können, was ihnen gut tut, was sie jetzt gerade brauchen, wovon ihre Seele lebt, wo sie zu sich selbst finden und sich damit Gott zuwenden können.
Allerdings – und das wissen sicher einige von euch auch: Nur dass es einen Sonntag gibt, bedeutet noch nicht, dass ich ihn auch als einen Ruhetag für mich nutze. Wie leicht setzt sich die Hektik und Ruhelosigkeit des Alltages in der Freizeit fort. Passiert es euch auch, dass ihr denkt: Jetzt kann ich das erledigen, was die ganze Zeit liegen geblieben ist? Oder: Jetzt habe ich Zeit wirklich einmal das zu tun, was ich mag, was ich schon immer machen wollte: Fahrradfahren, wandern, einen Ausflug machen, lesen, ... so vieles … und unbemerkt mit vielen Erwartungen und Ansprüchen gespickt komme ich nicht zur Ruhe, nicht zu mir selbst, bleibt Gott in mir auf der Strecke und die freie Zeit wird zum Freizeitstress, in dem es vielleicht doch um nichts anderes geht, als mich selbst zu optimieren.
Was ist gut für den Menschen? Was ist gut für Dich? Was brauchst du? Damit fragt Jesus nach dem Sinn des Gesetzes. Er spürte genau, dass es für seine hungrigen Jünger Sinn hatte, etwas zu essen zu bekommen – mit einem knurrenden Magen findet schließlich niemand recht zur Ruhe. – Außerdem: Wo Ruhe zum Zwang wird – ein Gesetz peinlich genau eingehalten werden muss – da stellt sie sich eben auch nicht ein.
Es geht nicht also nicht allein um das Befolgen eines äußeren Gebotes, sondern um den inneren Sinn, den Sinn für mich. Dabei ist das äußere Gebot, Ruhe zu halten, allerdings eine Hilfestellung und Erinnerung für mich daran, was gut für mich ist und mir gut tut. – Aber nicht etwas, was man tun muss, weil es einmal da steht und weil man das eben so macht. Ruhe, Hinwendung zu Gott wird sich doch auch kaum einstellen, wenn ich nur äußerlich Ruhe halte und etwa nichts tue. Ich kann und soll den Sinn der Sonntagsruhe nur in mir selbst finden und dann auch leben. Ich werde dabei auch entdecken: Was gut für mich ist, ist nicht unbedingt das, was ich spontan will.
Das heißt aber umgekehrt nicht, dass wir auf eine gesetzliche Regelung für einen Ruhetag verzichten könnten! Jesus sagt mit keinem Wort: Das Sabbatgebot ist mir egal. Gesetze sind ohnehin nur etwas für Spießer. Den Ruhetag zu achten, soll jedoch dem Leben dienen, weil das Leben immer höher steht als jede noch so geeignete Regelung. Unser aller Leben braucht notwendig einen Zeitraum, um auszuspannen, uns zu erholen und Luft zu schnappen und zu uns zu kommen, um uns Gott zuzuwenden, der in uns wohnt. – Deshalb muss irgendwann einmal „Sabbat“ sein, mit unserer Geschäftigkeit, mit unserer Hektik, mit unserem Arbeiten. Und doch gibt es gegebenenfalls Dinge, die von Situation zu Situation dem Leben mehr dienen, in denen Menschen gerade etwas noch dringender brauchen – Situationen wie dem Hunger der Jüngern damals.
IV
Die Entscheidung darüber, wann wir der Weisung des Gesetzes nicht Folge leisten, mutet Jesus uns selbst zu. Er mutet uns zu, in uns den Sinn zu finden. Wichtig bleibt ‑ wie bei allem anderen ‑ dabei, die Liebe nicht zu vergessen. Sie fragt stets zugleich nach dem Nächsten und mir selbst: Was tut dem anderen gut? und Was tut dir gut?
Einen Tag der Unterbrechung zu haben und selbst einzuhalten tut mir gut und ich glaube euch auch. Und auch das ist so: Wenn ich entspannt und ausgeruht bin, dann werdet ihr das sicher spüren und bestimmt als wohltuend empfinden und umgekehrt genauso.
Das ist für mich wieder in einem Gedicht beschrieben, diesmal von Dorothee Sölle: Du sollst dich selbst unterbrechen.
Du sollst dich selbst unterbrechen
Zwischen Arbeiten und Konsumieren
Soll Stille sein und Freude,
zwischen Aufräumen und Vorbereiten
sollst du es in dir singen hören,
Gottes altes Lied von den sechs Tagen
Von dem einen, der anders ist.
Zwischen Wegschaffen und Vorplanen
Sollst du dich erinnern
An diesen ersten Morgen,
deinen und aller Anfang
als die Sonne aufging
ohne Zweck
und du nicht berechnet wurdest
in der Zeit, die niemandem gehört
außer dem Ewigen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, ‑ und auch als alle Gesetze ‑ bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen
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