Predigt zum Kirchensonntag Exaudi am 24. Mai 2020

Liturgie und Predigt: Pfarrer Andreas Bader

Gott schenke uns ein offenes Herz für die Worte des Lebens und ein lebendiges Wort für unser Herz.

Sein Geist regiere unsere Herzen und Sinne.

Amen.


Liebe Gemeinde,


am 11. Mai dieses Jahres feierte der Graf von Münchhausen seinen 300. Geburtstag. Heute sind seine „Lügengeschichten“ nahezu jedermann bekannt. Die Bekanntheit und das Interesse an seinen Geschichten belegt: Es gibt eine Faszination und Lust an der Lüge, der Täuschung, List und Manipulation. Lügen ist heute up to date, in der Zeit der „Fake news“, der „alternativen Fakten“, der Verzerrung von Tatsachen in den Tweets des amerikanischen Präsidenten. Bei denen, die Verschwörungstheorien verbreiten.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben festgestellt, wie häufig Menschen im Alltag zur Lüge greifen: Die Spanne reicht von etwa 1-2 Lügen pro Tag bis hin zur Behauptung sogar 200-mal täglich belogen worden zu sein. Eine Notlüge halten die meisten im Allgemeinen für entschuldbar.

Aber warum dann überhaupt die Wahrheit sagen, wenn die Lüge doch mindestens in einigen Formen zulässig zu sein scheint? Warum nicht einfach mitmachen bei dem, was jeder macht, was selbst Präsidenten tun?


Über die katastrophalen Konsequenzen der Lüge kann man schon bei Shakespeare viel lernen: Im Othello wird gelogen, um aus reiner Bosheit und Rachsucht Schaden zuzufügen. Die beiden älteren Töchter von King Lear belügen ihren Vater, um einen eigenen Vorteil daraus zu schlagen: Sie wollen das Königreich erben und versprechen ihm, er sei der einzige Mensch, für den sie immer da sein werden und den sie immer lieben werden. Und bei Romeo und Julia wird durch eine List ein falscher Eindruck erweckt, um am Ende die gemeinsame Liebe möglich zu machen. Aber es führt wie in den anderen Stücken zu fatalen Folgen: Am Ende sind beide tot: Romeo und Julia auch.


Warum also die Wahrheit sagen? Weil die Lüge mit ihrem Willen zur Täuschung eben zu verheerenden Wirkungen führt. Wer lügt, täuscht einerseits den anderen eine falsche Wirklichkeit vor. Aus welchen Motiven auch immer: aus reiner Bosheit, um dem anderen zu schaden. So spinnen Menschen an Intrigen, schwärzen jemand bei anderen an, weil sie sich an ihm rächen wollen. Man lügt, weil man sich einen eigenen Vorteil verschaffen will. Es wird ein falsches Versprechen abgegeben, das man gar nicht zu halten beabsichtigt, um zu bekommen, was man will. Menschen lügen aus Angst vor Strafe und weil sie vor der Verantwortung für die eigenen Taten und deren möglichen Konsequenzen fliehen. Sie lügen, um geschont zu werden. Die gängigste Weise ist das „Ich war’s nicht, der da war’s.“ Es wird gelogen, es werden Schein-Tatsachen erfunden, um die eigene Macht zu erhalten.

Wer lügt, weiß dabei aber immer, dass er eine zweite, falsche Wirklichkeit neben der tatsächlichen vortäuscht. In ihm wohnen gewissermaßen zwei Wirklichkeiten.

Wer lügt, belügt sich deshalb andererseits immer auch selbst. Er muss doch an die Wahrscheinlichkeit der Scheinwirklichkeit glauben. Und nicht selten führt es dazu, dass er nicht mehr unterscheiden kann, was nun Wahrheit und was Lüge ist. Dann bleibt nur noch eine undeutliche Ahnung, dass irgendetwas nicht recht stimmt: ein Gefühl, das nicht zur Ruhe kommen lässt. Wer lügt, ist mit sich uneins, hat »zwei Herzen« in der Brust. Darin besteht im Grunde die große Gefahr der Lüge für sich selbst, noch ganz abgesehen davon, was damit bei den anderen an Schlimmem bewirkt wird.

Wer nicht ehrlich zu sich selbst ist, der lebt ein orientierungsloses und unruhiges Leben – belastet und getrieben von Schuldgefühlen, schlechtem Gewissen und Angst. In der alltäglichen Betriebsamkeit übersehen das viele. Sie verdrängen das undeutliche Gefühl. Wenn es aber einmal still wird, ergreift sie Panik und die Angst davor, an sich selbst, am Leben vorbei gelebt zu haben. Manche treibt es dann paradoxerweise zurück in die Ablenkung der Arbeit und Betriebsamkeit mit der Illusion, dadurch endlich zum guten Leben zu kommen.

Vielleicht ist das tatsächliche Motiv, das uns Menschen zur Lüge greifen lässt, das Gefühl, so wie wir sind nicht genug und nicht gut zu sein. Weil wir uns nicht so annehmen und lieben können, wie wir sind, machen wir uns selbst und den anderen etwas vor. Menschen lügen und betrügen, ersinnen Listen und Ausflüchte, weil es für sie eben nicht gut ist, wie es ist. Weil sie ihre Situation nicht ertragen können und auch oft auch sich selbst nicht.

Im heutigen Evangelium sagt Jesus zum Abschied seinen Freunden zu, ihnen einen Tröster und Anwalt zu senden für die Zeit, in der er selbst nicht mehr bei ihnen sein wird. In der Zeit, in der sie eben allein zurechtkommen müssen. Dieser Tröster ist aber kein Ver-tröster, der sagt: „Es ist alles gar nicht so schlimm. Morgen wird es bestimmt wieder besser!“ Es ist kein Anwalt, der zu Listen und Tricks rät, um unangenehmen Wirkungen zu entgehen, Vorteile zu sichern oder an das Ziel von Wünschen zu kommen, die eine immer nur vermeintliche Sicherheit versprechen. Der Tröster, den Jesus seinen Freunden senden wird, ist der Geist der Wahrheit. Er wird sie „in die ganze Wahrheit führen.“ In all das, was Jesus ihnen jetzt nicht mehr sagen kann. Das gilt auch für uns. Der Geist Wahrheit führt uns in die Wahrheit überhaupt. Er wird uns aus aller Lüge herausreißen.

Jesus war gewiss, dass niemand sich selbst aus der Lüge zurückrufen kann. Der Geist der Wahrheit ist nicht unser Geist. Er ist Gottes Geist. Der Geist von Gottes Wahrheit stellt immer in Frage, was wir selbst so für die ‚Wahrheit‘ halten, woran wir uns dann und wann so starrköpfig festhalten. Manchmal ist es eben doch Irrtum und Selbsttäuschung, manchmal sogar eine Lebenslüge. Und ehrlich gesagt, was macht das oft für einen Stress, und in welcher Angst und Unruhe bin ich, wenn ich andere belüge? ‑ Immer im Hinterkopf zu haben: „Wenn das rauskommt, …!“ Wie grundlegend unzufrieden bin ich mit mir selbst, wenn ich mir laufend einbilde, ein anderer zu sein, als der ich wirklich bin? Habe ich dann nicht ständig den Verdacht im Kopf: Die anderen könnten spüren, dass ich ihnen nur etwas vormache und gar nicht „echt“ bin?

Jesus weiß um diesen Stress, die Unruhe und das Getrieben- und Gehetzt-Sein von Angst und Schuldgefühlen. Er weiß, dass sie aus dem Gefangen-Sein in der Lüge entspringen. Deshalb sagt er an anderer Stelle: „Kommt alle zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen; ich will euch Ruhe verschaffen.“ Dabei lässt er es nicht dabei, Ruhe nur zuzusagen. Er sagt auch, wie es geht, zur Ruhe zu kommen: „Lernt von mir,“ sagt er, „denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“

Ich kann lernen, sanftmütig und demütig zu sein, weil es Jesus selbst möglich gemacht hat. „Sanft“ kommt ursprünglich von „sammeln“. Wer sanft-mütig ist hat den Mut, sich zu sammeln: Alles, was in ihm lebt und gelebt hat. Nichts ausblenden und nichts verdrängen, mich mit allem, was ich bin und war, annehmen wie ich bin. Wer sanftmütig ist belügt weder sich selbst noch andere. Wer sich selbst in dieser Weise liebend annimmt, wer sanftmütig zu sich selbst ist, der bekommt ein weites, liebendes Herz auch für andere. Er nimmt sich selbst an, wie er ist und er nimmt die anderen an, wie sie sind. Wer sanftmütig ist hat den Geist der Wahrheit.

Ähnliches meint auch „demütig“. Im Gegensatz zu Hochmut und Arroganz hat Demut den Mut, hinabzusteigen in die konkrete Wirklichkeit und Gegenwart des eigenen Lebens. Wer demütig ist, hat den Mut auch angesichts der Ängste und Sorgen mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen. Denn er weiß: Meine Wirklichkeit ist von Gott durchschaut und angenommen – so kann ich sie auch annehmen. Der Geist der Wahrheit ist Gottes Geist, der Geist der Liebe.


„Nehmt mein Joch auf euch, denn mein Joch ist sanft und ist leicht,“ fährt Jesus fort. Er wird mir keine Bürde und keine Last auferlegen. Sein Weg ist ein leichter. Aber dieser Weg führt eben nur durch die Wahrheit. Sich selbst annehmen, die Dinge, wie sie sind, das erfordert immer Mut – eben »De-Mut« und »Sanft-Mut«. Weglaufen und die Augen davor verschließen, ist immer scheinbar leichter. Sich alle Dinge zum Besten dienen zu lassen bedeutet, in der Wahrheit zu sein und wahrhaftig zu sein. So zu sein, wie ich bin ohne Widerstände, ohne Erschrecken vor mir selbst, ohne jemand anderes sein zu wollen. Das führt zu Zufriedenheit und Ruhe.

Der Geist der Wahrheit wird mich in die ganze Wahrheit führen, er wird jede Selbsttäuschung, allen Lug und Trug in mir aufdecken und mich zum wirklichen Leben führen. Ein Leben, das keine Täuschung, keine Lüge und keinen Selbstbetrug mehr nötig hat und eben auch keinen Betrug der anderen. Denn hier – in der Wahrheit ‑ erkenne ich: Ich bin geliebt und genug, so wie ich bin. Ich bin ein wunderbarer Mensch.


„Die Wahrheit wird euch frei machen.“, sagt Jesus. Sie wird mich zur Ruhe bringen, weil sie der Mut zu mir selbst ist. In diesem Sinne sagt Jesus von sich selbst: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Der Weg nämlich, der durch die Wahrheit zum wahren Leben führt. Haben wir den Mut, diesen Weg zu gehen.


Amen

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