Predigt zum 16. Sonntag nach Trinitatis 27. September 2020

Gott schenke uns ein offenes Herz für sein Wort und ein lebendiges Wort für unser Herz.

Liebe Gemeinde,

wahrscheinlich kennt ihr ‑ und habt vielleicht auch für euch selbst ‑ große Vorbilder im Glauben. Martin Luther ‑ bestimmt. Er hat im Vertrauen auf Gott unerschrocken gegen die Missstände in seiner Kirche gekämpft und zuletzt die Reformation in Gang gesetzt. Viele werden Dietrich Bonhoeffer kennen, der gegen das menschenverachtende Regime der Nationalsozialisten diesem tödlichen Rad in die Speichen griff. Auch er tat dies im vollen Vertrauen auf Jesus Christus, der Liebe Gottes.

Vielleicht kennen manche auch Irma Dulce. Sie war eine brasilianische Ordensschwester. Ihr ging es um die, die von den anderen nicht gesehen wurden: Kranke, Sterbende und Menschen ohne Wohnung. Sie brach sogar leerstehende Häuser auf, um für sie ein Dach über dem Kopf zu finden. Sie hat sich um die Ärmsten gekümmert, um die, die durchs Raster fielen.

Es ist wichtig, sich an solche Glaubensvorbilder zu erinnern. Ihr Mut, ihre Kraft und ihre Besonnenheit können uns Möglichkeiten zeigen, unseren Glauben tätig werden zu lassen.


Paulus, der Apostel, behauptet, dass diese Eigenschaften in allen Menschen da sind, die auf Gott vertrauen. Er wusste, dass Menschen oft genug die Courage abhandenkommt, ihnen Kraft und Besonnenheit fehlen. So schreibt er ermutigend an seinen Vertrauten Timotheus:

Gott hat uns nicht einen Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

Luther, Bonhoeffer und Irma Dulce haben sich nicht von Widerständen abhalten lassen, wenn es um den Kampf gegen Missstände, Menschenverachtung oder einfach die Not der Mitmenschen ging. Sie sahen die Not und wurden aktiv. Sie ließen sich nicht einschüchtern von Gesetzen und Umständen, die ihr den Weg versperrten. Sie traten unerschrocken für die Würde der Menschen ein, selbst auf die Gefahr hin, ihr eigenes Leben zu verlieren.

Diese Vorbilder fragen mich, wie es mit Mut, Kraft und Besonnenheit in meinem Leben steht, wo ich sie spüre und wie ich sie leben kann, wie Gottes Geist in mir lebendig werden kann.

Ich muss zugeben: Ich bin kein Held, der ohne weiteres bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich bin dankbar, dass ich in einer Zeit lebe, in der das auch nicht notwendig ist.

Und doch spüre ich im Alltag immer wieder Ängstlichkeit in mir: Manches Mal ertappe ich mich dabei, dass ich in schwierigen Situationen ausweiche. Ich will einerseits niemandem wehtun und spüre zugleich die Furcht, durch einen klaren Standpunkt selber Nachteile davonzutragen.

Es fällt mir schwer, klar Stellung zu beziehen, wenn ich Menschen begegne, die sagen „Jetzt kommen noch mehr Fremde, das schaffen wir doch gar nicht!“, weil sie sich um das sorgen, was sie sich aufgebaut haben.

Oder ich halte mich eher raus, wenn ich in den sozialen Netzwerken manche Auseinandersetzung verfolge und sehe, mit welcher Wortgewalt dort ausgeteilt und wie zuweilen vernichtend über andere geurteilt wird.

Es ist eine Herausforderung für mich, wenn ich sehe wie Menschen bewusst die Schutzbestimmungen gegen das Virus missachten und ihre Freiheit auf Kosten der möglicherweise Betroffenen durchsetzen wollen. Ich muss mich überwinden, ich brauche Mut, um klar Stellung zu beziehen. Ausweichen, der eigenen Ängstlichkeit nachgeben, ist immer einfacher. Der Angst Tür und Tor zu öffnen und die eigene Ängstlichkeit entscheiden zu lassen, heißt aber, dass ich mich nicht von Gottes Geist bestimmen lasse.


II

Es stimmt, alle Menschen haben Angst. Angst bedeutet Enge und Anspannung bis zu Verspannung und Verkrampfung. Sie macht mich klein und es eng in mir. Sie sitzt mir im Nacken und verschließt mir den Blick für meine Mitmenschen und das, was mich umgibt. Wird die Angst übermächtig, drohe ich mir selbst abhanden zu kommen. Wenn Angst mich beherrscht, ist das für mich ein untrügliches Zeichen, dass es mir an Vertrauen und Selbstvertrauen fehlt.

Alle Menschen haben Angst. Aber nicht alle Menschen lassen sich von ihrer Angst gefangen nehmen. Sie leben nicht in einem Geist der Ängstlichkeit. Das sind Menschen, die im Geist, im Geist Gottes leben.

Denn Gottes Geist ist nicht der Geist von Angst und Ängstlichkeit, von Enge und Verkrampfung, sondern der Freiheit von ihr. Deshalb wird Gottes Geist im Neuen Testament auch der »Geist der Wahrheit« genannt, von dem es heißt, „er wird euch freimachen“. Er lässt mich meinen Kopf heben, macht mich weit und offen. In dieser Freiheit durch den Geist, bleiben Sorgen und Ängste da. Es gibt schließlich genug, vor dem ich mich zu Recht fürchte – am allermeisten wohl vor dem, was Menschen sich untereinander antun können. Ängste bleiben, aber sie bedrohen mich nicht länger. Im Geist Gottes bin ich frei zu handeln, trotz der Angst, trotzdem Sorgen und Nöte noch da sind.

An vielen anderen Stellen erzählt die Bibel von solcher Freiheit. Sie hat den Menschen ihre Horizonte weit gemacht und ihr Leben verwandelt hat. Menschen, die ganz in sich verkrümmt waren, konnten auf einmal aufblicken und lernten aufrecht zu gehen. Sie konnten loslassen, was sie in alten lebensfeindlichen Strukturen und eingeübten Verhaltensmustern festhielt. Sie konnten sich neu entdecken und zu neuen Menschen werden. Sie fanden gemeinsam mit anderen neue Wege, die sie sich selber nie hätten vorstellen können. Sie konnten sich öffnen für die anderen und ihre Not.

Sie lebten im Geist Gottes und wandten ihren Blick auf etwas anderes, das stärker ist als die Angst.


III

Die entscheidende Frage ist: Wie geht das? Wie kann jede und jeder in sich diesen Geist lebendig spüren? Wie kann ich mich von Gottes Geist bestimmen lassen? Solange ich nur darüber rede, bleibt es auch bei bloßen Worten.

Es geht, weil Gottes Geist schon in mir atmet. Nicht zufällig umfasst im Neuen Testament das Wort für »Geist« auch die Bedeutung von Hauch und Atem. Gottes Geist ist sein Atem im mir. Im Atmen bin ich in seiner und in meiner Gegenwart. In der Konzentration auf den Atem mache ich die Erfahrung, dass Furcht und Angst weichen. Ich fühle mich befreit aus der Enge und kann mich öffnen. Ich schöpfe neue Kraft zum guten Handeln.

Ihr kennt alle das Befreiende des Atems aus eurem Alltag: Ihr holt z.B. erstmal tief Luft, wenn es gilt, etwas Schweres anzugehen. Ihr atmet tief ein und aus, weil ihr gerade so aufgeregt seid und kommt dann zu Ruhe.

Der Atem ist nicht nur eine biologische oder physiologische Funktion des Körpers zur Sauerstoffversorgung. Der Atem ist Gottes Atem in mir, die unmittelbare Verbindung zwischen mir und ihm.

Diese Erfahrung macht jedoch nur derjenige, der den Atem nicht länger für etwas Selbstverständliches hält, sondern sich spürsam und achtsam auf ihn konzentriert und diese Konzentration immer wieder einübt. Dann hole ich mich gleichsam zu mir selbst zurück, heraus aus allem, was mir Angst und Sorge macht, auch aus allem, was ich überflüssigerweise begehre und was mich ablenkt. Ich komme in meine Gegenwart. Ich spüre mit einem Mal, dass nicht ich atme, dass ich den Atem nicht selber mache, sondern dass es in mir atmet.

Der Atem Gottes führt mich zu mir selbst, befreit mich und gibt mir neue Kraft, er lässt mich seine Liebe spüren. Es wird deutlich, dass es nicht mein eigenes Vermögen ist, sondern seine Kraft und Liebe, die mich, indem ich meinen Verstand gebrauche, zu besonnenem und liebevollem Handeln führt.

Bin ich atmend bei mir selbst, dann gelingt es mir, den Mut aufzubringen, Dinge anzusprechen, die notwendig sind, um mir und anderen weiterzuhelfen ‑ auch wenn es mir schwerfällt.

Dann kann ich alle Menschen als Gottes geliebte Kinder sehen, in denen sein Atem wie in mir selbst kommt und geht, auch den Mann und die Frau, die ihre Heimat verlassen mussten und hier Fuß fassen wollen. – Eine Sorge, vielleicht etwas abgeben zu müssen, fällt demgegenüber dann nicht mehr ins Gewicht.


IV

Ich glaube fest, dass es genau das war, was Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer, Irma Dulce und so viele ungenannte Vorbilder im Glauben zu ihrem mutigen Einsatz für andere befähigte. Sie lebten und leben im lebendigen Geiste Gottes. Sie vertrauen, ohne jeden äußeren Grund, allein auf Gottes Liebe, die in ihnen atmend lebendig ist und die allen Menschen gilt – egal wer sie sind und woher sie kommen – Denn die gleiche Liebe lebt und atmet auch in den anderen. Gottes Geist gab ihnen Rückhalt und Rückgrat.

Ich glaube genauso fest, dass alle Menschen, ihr und ich selbst auch, diese Möglichkeit haben, gegründet in sich selbst, also in Gottes atmender Liebe, für andere da zu sein; ‑ ein jeder und eine jede so wie es den eigenen Möglichkeiten entspricht. Wirklich wird es erst, wenn wir es tun und ausprobieren und nicht gleich aufgeben, wenn es nicht so klappt, wie wir uns das vorgestellt haben.

Amen.

Andreas Bader, Pfarrer

  • Version